2 Theoretischer Teil – VM2G

Darstellung des auf beiden Fußsohlen stehenden Körpers. Blick von unterhalb des stehenden Körpers.

Habituierungsprozesse und neuronale Plastizität

Die Nervenzellen des ZNS verfügen bei der Verarbeitung von Informationen über viele Habituierungsmechanismen. Anpassungsprozesse, die durch gewisse Veränderungen im prä- und postsynaptischen Bereich zur Verbesserung, d. h. zum Anstieg der synaptischen Effizienz führen, werden in der Regel unter dem Begriff Primäre Aktivierung zusammengefasst. Es geht um einen Gedächtnistyp auf unbewusster Ebene, der das Individuum beeinflusst und orientiert; ein Phänomen, bei dem die wiederholte Reizung gewisser Nervenbahnen den Effekt einer gleichstarken Reizung verstärkt oder die Erregung von Nervenbahnen auch aufgrund eines schwächeren Impulses ermöglicht.

Mit diesem Begriff werden Mechanismen beschrieben, bei denen die Übertragungsbeziehung der Synapsen durch häufigere spezifische Aktivierung effizienter wird. Dieser Zustand kann Minuten, Stunden oder auch mehrere Tage andauern, je nachdem, welche speziellen Anpassungsprozesse der Verstärkungsreaktionen ihn hervorrufen. Alle Nervenzellen im ZNS sind über Synapsen netzartig miteinander verbunden.

Weitere Möglichkeiten der Anpassung sind z. B. die Bildung neuer synaptischer Brücken oder die Reaktivierung inaktiver Synapsen. Erkenntnisse aus In-vitro-Experimenten an den Neuronen von Ratten zeugen davon, dass die Unterstützung der neuronalen synaptischen Aktivität für die Entstehung neuer Verbindungen zwischen Nervenzellen von Bedeutung ist.

Wir können davon ausgehen, dass der Zustand der Synapsen, ihre Stärke, Dichte und Aktivität stark von Art und Menge der afferenten Reizmuster abhängen. Kommen z. B. keine adäquaten Reize, verkleinern sich die synaptischen Verbindungen und entsprechende Erregungskreise verschwinden.

Zur Erreichung der notwendigen ZNS-Aktivität und zur Nutzung des Entwicklungsraumes (ZNS-Plastizität) ist eine wiederholte Aktivierung des neuronalen Netzes notwendig, das anschließend auf bestmögliche (ihm eigene) Art und Weise dem Anpassungsprozess entspricht. Bei der Wiederholung von Stimuli sind die ans ZNS gehenden Erregungsinformationen bei ihrer Verarbeitung nicht identisch, sondern nur ähnlich. Die Formung einer optimalen Bewegung als Antwort auf die Erregung erfordert die Verarbeitung zu ständig gleichen Bewegungsmustern aufgrund des angeborenen und aktivierten Programms.

Die Integration verschiedener Sinneseindrücke stellt eine weitere Dimension der komplexen Vernetzung des ZNS dar. Für einzelne Sinnesorgane sind spezifische Erregungen notwendig. Der Sehsinn erfordert Lichterregungen, der Gehörsinn akustische Erregungen, der Geruchssinn Duftstoffe und der Tastsinn Druckerregungen. Spezifische Erregungen werden von Rezeptoren des entsprechenden Sinnesorganes wahrgenommen und ans ZNS weitergeleitet. Aktiv sind dabei nicht nur die entsprechenden Zellbündel der zugeordneten ZNS-Bereiche. An der Organisierung und Verarbeitung der Sinneseindrücke beteiligen sich auch Zellbündel der benachbarten Bereiche, wie z. B. bei der Lichterregung die damit verbundene Kontrolle der Augenmuskeln bzw. der Körperhaltung. Die Vernetzung bezieht sich somit auf motorische Bereiche und ihre Zellbündel, denn die Fixierung mit den Augen wird erst durch koordinierten Einsatz der Augenmuskeln und entsprechende Kopf- und Körperhaltung möglich.

Auch in der Therapie kann man solche komplexen Prozesse beobachten: Die Aktivierung der motorischen Muster von Rumpf und Kopf verändert nicht nur die Fähigkeit der richtigen Koordinierung der Augenbewegungsmuskel (bei unrichtiger Koordinierung entstehen verschiedene Strabismustypen), sondern auch die Fähigkeit, die Augen zu fokussieren – um beim Beispiel der Augen zu bleiben. Dies wiederum geschieht durch Normalisierung der Koordinierung der ziliaren Linsenmuskeln.

Das Geniale an Dr. V. Vojtas Entdeckung war die Erkenntnis, dass es im Gehirn bereits von der Geburt an so etwas wie ein „Reservekorrekturprogramm“ gibt, mit dem uns die Natur ausgestattet hat. Diese Tatsache kann man allgemein den anderen sog. Autosanierungsmechanismen des Körpers zuordnen, wie z. B. die Heilung verletzter Haut oder gebrochener Knochen. So, wie es für einen normalen und erfolgreichen Verlauf des Heilungsprozesses eines Knochenbruchs notwendig ist, praxisbewährte Bedingungen zu erfüllen, also die Knochenfragmente zu fixieren, dem gebrochenen Knochen Ruhe zu gewähren und ihn nicht zu belasten, so erfordert auch der „Start“ und der erfolgreiche Verlauf der Behandlung von Bewegungsapparatstörungen mithilfe dieses Reserveprogramms die Erfüllung gewisser Bedingungen.

Die klinische Praxis hat gezeigt, dass man zum Anlauf des Korrekturprogramms den Körper in vorab definierte Lagen bringen anschließend eine Reihe von „Auslösezonen“ am Körper stimulieren muss.

Dadurch wird eine vom Willen nicht gesteuerte Reflexbewegung ausgelöst. Man kann zwei Typen dieser Bewegungen unterscheiden – re­­flexartiges Kriechen und reflexartiges Umdrehen, die mit der Zeit um einige Modifikationen erweitert wurden. Der Einsatz der Technik des Reflexkriechens steckt bisher noch in den Anfängen. Es handelt sich um eine isometrische Bewegung, so, als würden wir die wirkliche Bewegung in einer gewissen Phase „einfrieren“. So erreicht man eine viel höhere Effektivität dank der zeitlichen und räumlichen Summierung von Reizen, die zurück ins Gehirn gehen.

Die Stimulierung neuronaler ZNS-Strukturen erreicht man aus gegebenen Ausgangspositionen auch durch Stimulierung der sog. Auslösezonen. Auslösezonen und -punkte gibt es am Körper eine ganze Reihe, und man wirkt durch sie vor allem auf die Zugrezeptoren der Muskulatur und der Sehnen, auf Druckrezeptoren der Haut und der Beinhaut (Periost) und auf Rezeptoren innerer Organe (Interorezeptoren). Weitere Rezeptoren, die sich am Start des Korrekturprogramms beteiligen, sind Gleichgewichtsrezeptoren (Labyrinth) und auch die eigentlichen Gleichgewichts- und Aufrichtungsreflexe.

ZNS-Plastizität und ihre Beziehung zur entwicklungsmäßigen Habituierung an „Hardwareveränderungen“ des Bewegungsapparats

Es ist wahrscheinlich, dass schrittweise Involutionsveränderungen des Körpers das Ergebnis eines Zusammenspiels der Leistungssenkung der eigentlichen „Hardware“ des Bewegungsapparates sowie der „Softwareprozesse“ im ZNS sind. Das Niveau der allmählichen Degradation ist direkt proportional zur gegenseitig notwendigen Anpassung beider Seiten, d. h., der Hardware an die Software und umgekehrt.

Veränderungen in der Automatisierung der Körperhaltung und der Bewegungsstereotypen sind nicht das Ergebnis von Veränderungen, die am Bewegungsapparat verlaufen, sondern es sind auch Veränderungen sonstiger Gewebe und Organsysteme daran beteiligt. Dabei geht es um Veränderungen der Flexibilität des Knochengewebes, Senkung des Tonuses der Verdauungstrakt-Muskulatur, Einschränkung der Fähigkeit, die Spitzen der Lungenflügel zu belüften, also allgemein eine Senkung der vitalen Lungenkapazität, und weitere Veränderungen. Man kann somit den alternden Körper als Ganzes zu Veränderungen nicht durch Übungen auf analytische Weise zwingen (Kraftübungen, Dehnübungen), da diese Willensinterventionen nicht alle oben angeführten Aspekte berücksichtigen. Wird z. B. der Kopf durch willkürliches Üben aus einer zu weiten Vorschiebung zurück in die physiologische Lage gedrückt, kommt es zu unangenehmen Perzeptionen beim Schlucken und der Phonation. Dies kommt davon, dass autonom gesteuerte Strukturen nicht unseren Willensanstrengungen unterliegen, und man somit ihre Stellung und ihren Tonus nicht so leicht verändern kann.

Auf der anderen Seite ermöglicht es die ZNS-Plastizität, eine Anpassung an die neu entstandene Haltung des Bewegungsapparates sowohl beim Skelett als auch bei inneren Organsystemen vorzunehmen, vor allem, was ihren Tonus und ihre Funktionsfähigkeit angeht. Dies ist jedoch nur unter der Voraussetzung möglich, dass dies mithilfe der Reflexlokomotion, unbewusst und nach einem genetisch gegebenen Programm geschieht.

Die oben beschriebenen Reiz- und Lagemöglichkeiten sind im übertragenen Sinne ein System von Schlüsseln und Schlössern zu Bewegungsprogrammen.

Die Qualität und Intensität der zu erneuernden Bewegungsprogramme ist direkt proportional zur Verlässlichkeit, Zugänglichkeit und Stabilität der neu entstehenden Erregungskreisverbindungen und der Dichte des neuronalen ZNS-Netzes. Deshalb ist die wiederholte tägliche Dosierung der Therapie notwendig. Dank der sich wiederholenden Stimulierung normalisieren sich die automatisierte Körperhaltung sowie die Aufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe. Dies ermöglicht den Einsatz der spontanen Motorik und ihrer Stabilisierung.

Ein bedeutender Einfluss der therapeutischen Stimulierung macht sich auch in der Normalisierung der Perzeption des Körperschemas bemerkbar. Bei Kindern, die aufgrund einer motorischen Störung keine normale Entwicklung des Bewegungsapparates durchgemacht haben, ist die sensomotorische Perzeption des Körpers deutlich deformiert und unterdrückt. Auch bei erwachsenen Patienten mit anderer Ätiologie der Bewegungsstörung ist die Perzeption des Körperschemas in gewissem Maße gestört. Dies äußert sich z. B. bei Störungen der Körperhaltungsautomatik oder bei einem gestörten Gangstereotyp. Die Reflexlokomotion ermöglicht auch eine Normalisierung der Fähigkeit des differenzierten Körperbewusstseins, die für das Kind und den erwachsenen Patienten die Grundlage zum Erlernen neuer Funktionen bildet. Vor allem ermöglicht sie das Auslösen komplizierter Anwendungsprogramme der Grob- und der Feinmotorik. Von großem Vorteil ist auch das wachsende Vertrauen in die Fähigkeiten und die „Verlässlichkeit“ des eigenen Körpers, das im Verlauf der Therapie in der Regel zunimmt.

Die Nutzung der Plastizität und Wachstumsfähigkeit des neuronalen Netzwerkes ist bei Beurteilung des Umfanges der ZNS-Schädigung von wesentlicher Bedeutung. Das Ausmaß der anatomischen Schäden und der aktuelle Funktionsausfall müssen keine negative Prognose für die Zukunft bedeuten. Wir wissen, dass es bei großen anatomischen Schäden vorkommt, dass nur kleine Funktionsstörungen auftreten, demgegenüber jedoch kleine anatomische Fehler oft mit großen Funktionsausfällen verbunden sind. Ein anatomischer Defekt sagt also nicht völlig zuverlässig etwas über die ZNS-Entwicklungsmöglichkeiten aus.

Im Rahmen der VM2G Therapie wird das ZNS durch viele gezielte Impulse langzeitig stimuliert. Mittels Variierung von Ausgangspositionen, Kombination von Auslösezonen und veränderlichem Startdruck können die Erregungen auf unzählige Arten modifiziert und vervielfacht werden. Das ZNS muss sich auch bei jedem weiteren Einsatz der Reflexlokomotion, sei es auch nur durch Veränderung der Körperlage, auf die neuen Anforderungen einstellen, sodass seine Aktivität wesentlich gesteigert wird.

Besonders sinnvoll und aussichtsreich erscheint die oben erwähnte Ausnutzung der Plastizität mithilfe der Reflexlokomotion, wenn sich der Bewegungsapparat in der Reparationsphase befindet, z. B. nach einem Bandscheibenvorfall. Das ZNS versucht in dieser Phase, verletztes Gewebe durch Neustrukturierung neu anzuordnen und zu kompensieren.

Um die fehlerhafte Steuerung der Motorik maximal einzuschränken und somit ihrem zukünftigen Entgleiten vorzubeugen, ist vor allem bei Kindern diese Phase der Neustrukturierung wichtig. Es haben sich nämlich noch keine „fehlerhaften“ Ersatzbewegungsmuster etabliert.

Dank des therapeutischen Einflusses der VM2G erhält das ZNS einen Anreiz zur Nutzung physiologischer Bewegungsmuster. Die werden in der Folge Bestandteil des Grundoperationsprogramms der Beweglichkeit, ähnlich wie ein „Patch” für die SW-Reparatur eines Computers.

Umfangreiche Möglichkeiten bieten sich vor allem für die rechtzeitige therapeutische Intervention bei Störungen der zentralen Koordination oder bei peripheren Paresen, vor allem in den ersten Monaten nach der Geburt.

Z. B. bei einem Kind mit Lähmung des Armgeflechts infolge eines Geburtstraumas ist der rechtzeitige Beginn der Therapie außerordentlich wichtig. Das Kind ist sich von Anfang an seines Körpers bewusst und braucht dazu beide seine Seiten. Wegen der Lähmung des Armgeflechts bleibt der behinderte Arm längere Zeit für spontane Bewegung überhaupt nicht oder nur beschränkt einsetzbar. Begänne man nicht binnen 10 Tagen mit der Therapie, würden sich eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten verfestigen. Das Kind ist sich seines Armes überhaupt nicht oder nur beschränkt bewusst und dreht sich somit nicht auf diese Seite. Folge ist nicht nur eine fehlerhafte sensomotorische Wahrnehmung, sondern auch eine körperliche Asymmetrie, die zu Folgeschäden führen kann.

In gleicher Weise kommt es zur Schädigung eines nicht aktivierten Augennervs, da dieser sich nur im beschränktem Maße remyelinisiert. Dasselbe gilt auch für Störungen peripherer Nerven.

Jede Zelle eines Embryos, eines Kindes und eines Erwachsenen verfügt über ein vollständiges genetisches Programm und somit auch über die theoretische Möglichkeit, zu einer der ca. 200 Zelltypen des menschlichen Organismus zu werden und zu einem der fünf Grundtypen von Geweben zu gehören. Eine zentralisierte Steuerung der morphogenetischen Prozesse im sich entwickelnden, und somit auch im wachsenden Organismus existiert vorerst nicht, und die Steuerung ist eher auf kleinere, autonome Bereiche beschränkt. Sie zentralisiert sich allmählich. (S. 35)

Im Experiment wurde nachgewiesen, dass zur Nutzung der Multipotenz von Stammzellen differenzierter Gewebe das Vorhandensein einer Mikroumgebung – Nische notwendig ist. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, ist der Einsatz von Stammzellen in differenzierten Geweben sehr eingeschränkt. Die Nische kann ein Miniaturraum sein, der nur eine Zelle umfasst. Sie kann aber genauso ein viel größerer Raum sein. Die Nische besteht aus benachbarten Zellen, Nerven in der Umgebung von Stammzellen, Wänden der Blutkapillaren, Molekülen verschiedenster Stoffe in der interstitiellen Flüssigkeit (Hormone, Ionen, Wachstumsfaktoren usw.). Eine Nische unterscheidet sich in ihrer Struktur immer etwas vom sie umgebenden Gewebe. In jedem Gewebe gibt es zwar immer eine größere Menge von Räumen mit passender Umgebung für das Überleben von Stammzellen. Bei einer umfassenderen Verletzung, z. B. bei Verbrennungen, kann die Nische jedoch vernichtet werden und die Möglichkeit einer weiteren Erneuerung der Gewebe dadurch eingeschränkt sein.

Die Funktion der Nische besteht in der Regelung des Verhaltens der Stammzellen, in der Schaffung einer Umgebung für ihr Überleben und in der Erhaltung ihrer Fähigkeit zur weiteren Differenzierung.

Die Mikroumgebung einer Nische kann die Stammzellen auch umprogrammieren. Dies bedeutet, dass z. B. die Nervenzelle, die zur Differenzierungsbahn eines Neurons vorprogrammiert ist, durch eine Nischenveränderung auf die Bahn einer Muskelzelle umgeschaltet wird und sich an der Myogenese beteiligen kann. So, wie sich die Mikroumgebung der Gewebe verändert, verändert sich auch das Verhalten der Stammzellen. Stammzellen können altern, aber sie können auch verschiedene Eigenschaften ihres aktuellen Zustandes zeigen. Sog. schlafende Stammzellen altern nicht. Unter gewissen Bedingungen werden sie aktiv und zu vollwertigen Gewebezellen. Aktivierte Zellen können sich umgekehrt in ruhende Zellen mit minimalem Stoffwechsel transformieren.

Eine spezifische Eigenschaft von Stammzellen ist ihre extrem hohe Widerstandsfähigkeit gegen Beschädigung der genetischen Information. Diese Eigenschaft erhalten die Stammzellen von den für die „Reparatur“ von DNA zuständigen Proteinen, Proteinen des Detoxikationssystems, Antioxidationsproteinen usw. Nach heutigem Wissensstand lassen sich den Stammzellen erwachsener Gewebe mehrere Eigenschaften zuschreiben, die man bereits teilweise in der Heilpraxis nutzen kann:

Stammzellen haben die Fähigkeit, ihre ursprüngliche Entwicklungsrichtung je nach Umgebung, in die sie eingesetzt werden, grundlegend zu ändern. Im Blut beispielsweise verwandeln sich Nerven-Stammzellen in Blutelemente.

Aus Stammzellen erwachsener Gewebe können eher kleinere Zellpopulationen entstehen, vor allem wenn sie sich in ihrer ursprünglichen Gewebeumgebung befinden. Es sieht so aus, dass die „Pluripotenz“ erwachsener Stammzellen im Vergleich zu embryonalen Stammzellen kleiner ist. Embryonale Zellen haben eher die Totipotenz einer Zygote.

Die Stammzellen differenzierter Gewebe sind selbst zwar undifferenzierte, aber für die Entwicklung einer gewissen Stammlinie bereits differenzierte Zellen. Sie werden als Progenitorzellen oder – blasten (Fibroblasten, Chondroblasten, Osteoblasten u. ä.) bezeichnet. Ihre kritische Mitose ist asymmetrisch, d. h., es entstehen zwei nicht identische Elemente daraus: eine weitere Tochter-Vorläuferzelle und eine Gewebezelle, die sich in das Zellsystem des zu erneuernden Gewebes einschalten.

Regeneration – Die Erneuerung oder Heilung beschädigter und verlorener Gewebe oder sogar von Organteilen ist teilweise auch bei einem Menschen möglich. Die Regenerationskapazität von Geweben und Organen im postnatalen Zeitraum sinkt jedoch verhältnismäßig schnell. Es ist nicht bekannt, dass im Verlauf der Regeneration des erwachsenen Organismus auch andere als die grundlegenden morphogenetischen Prozesse: Zellproliferation, Distribution, Interaktion und Zellreduktion ablaufen. Auch wurde weder ein gewebespezifisches „Regenerationsmorphogen“, noch eine spezifisch regenerativ wirkende Gruppe von Genen gefunden. Die ungleichmäßige Senkung der Regenerationskapazität von Geweben in der postnatalen Ontogenese ist bisher nicht überzeugend erklärt worden. (S. 38–39)

Meiner Meinung nach deuten die durch den Einsatz der VM2G-Therapie bei Patienten verschiedener Alterskategorien und Diagnosen erreichten klinischen Ergebnisse auf die Funktion der Reflexstimulation als globalem Programm zur Regeneration und Reparatur vieler Gewebe und Organsysteme hin. Was hinter dieser Regenerationsfähigkeit steckt, muss man weiter erforschen, denn hinter dieses Regenerationsfähigkeit könnte gerade die Fähigkeit des Körpers sein, die Stammzellen für seine Reparatur einzusetzen.

Aufgrund langjähriger klinischer Praxis komme ich zu dem Schluss, dass das genetisch gegebene, für die Entwicklung des Kindes zuständige Entwicklungsprogramm von Geburt an bis zum Erwachsenwerden funktionstüchtig ist.

Anhand der Ergebnisse der experimentellen Morphologie und der Wachstumsstudien transplantierter Organe ist erkennbar, dass es neben den Gewebehormonen und Wachstumsfaktoren des Typs IGF eine Reihe weiterer, manchmal bereits detektierter Faktoren, aber auch eine Menge lokal freigesetzter Polypeptide gibt, bei denen es bisher nicht gelungen ist, sie in zufriedenstellender Weise zu isolieren und ihre Spezifität und Effektivität zu definieren.

Einzelne, mehr oder weniger definierbare Wachstumstypen sind nur eine Schematisierung des Wachstumsprozesses. Wenn wir die gegebene Sortierung akzeptieren, dann nur mit dem Wissen, dass sie „in reiner Form“ vor allem in den frühen Phasen der ontogenetischen Entwicklung abläuft.

Als Beispiel für die allmähliche Integration der Wachstumstypen können die sich entwickelnden Gliedmaßen dienen. Die mesenchymale Zellpopulation der Gliedmaßenknospe wächst zonal, aber das deckende Ektoderm wächst interstitiell. Multiplikationswachstum in Kombination mit zonaler Wachstumsaktivität ist typisch für das Formen der Organgrundlagen, z. B. der Knochen, und der resultierenden Form und Lage der ganzen Extremität.

Am Ende des pränatalen Zeitraumes werden sämtliche Wachstumstypen „zusammengeschweißt“ – integriert. Die Wachstumsintegration ist dabei nicht typologisch proportional und kann auch im Rahmen eines Gewebesystems unterschiedlich sein.

Zwischen der Wachstumsaktivität verschiedener Gewebetypen gibt es in diesem Zeitraum keine großen Unterschiede. Z. B. beenden die meisten Neuronen ihr multiplikatives Wachstum zwar im frühen postnatalen Zeitraum, die Neurone des Hippokampus können sich jedoch auch bei Erwachsenen multiplizieren. Pneumozyten des Typs I teilen sich während der gesamten Kindheit, und die Stammzellen des Knochenmarkes behalten ihre Teilungspotenz während ihres gesamten Lebens. Das multiplikative Wachstum wird von zwei Arten von Stoffen geregelt:

Äußere Faktoren, produziert durch entfernte Gewebe, z. B. Hormone, und innere, lokale Faktoren, die einen parakrinen Effekt haben. Lokal kommen z. B. durch das Blutgefäß-Endothel produzierte Stoffe, Wachstumsfaktoren des Insulintyps (IGF I) usw. zum Einsatz.

Über die räumliche und zeitliche Abfolge und vor allem über die Harmonisierung der Einwirkung äußerer und innerer Faktoren, die das multiplikative Wachstum steuern und regeln, ist verhältnismäßig wenig bekannt.1

1 DYLEVSKÝ, Ivan. Anatomie dítěte: nipioanatomie. Praha: České vysoké učení technické v Praze, 2014-. ISBN 978-80-01-05094-1

Kasuistik – Ema und Ela

Ema und Ela im Alter von sieben Jahren

Illustration der Therapie bei vorzeitig geborenen Zwillingen

Ema und Ela kamen im achten Schwangerschaftsmonat durch Kaiserschnitt zur Welt. Sehr bald zeigten sich Probleme bei ihrer Entwicklung, und der Pädiater empfahl eine neurologische Untersuchung und eine Physiotherapie. Beide Kinder begannen im dritten Lebensmonat, also rechtzeitig, mit Rehabilitationsübungen.  Elas Zustand begann sich relativ bald zu verbessern, sodass sie bereits im zehnten Monat fähig war, zu stehen. Bei Emas Entwicklung kam es jedoch trotz rechtzeitigen Beginns und intensiver häuslicher Durchführung der Therapie zu einer Verschlechterung. Im Alter von zehn Monaten war sie nur imstande, mithilfe einer Hand zu kriechen. Wiederholte neurologische Untersuchungen verwiesen auf ein wachsendes Risiko der Entwicklung von zerebraler Kinderlähmung auf einer Körperseite. Verglich man die Entwicklung beider Mädchen, war augenscheinlich, dass Emas Entwicklung in die falsche Richtung ging.

Klinische Beschreibung der Probleme

Die allmähliche Entwicklung und die vorhergehende Anamnese zeigten, dass es sich bei Ema um eine schwerwiegende Form einer zentralen Koordinierungsstörung handelt. Elas anfänglich ungünstiger Zustand begann sich verhältnismäßig schnell zu normalisieren, wobei ein Vergleich der Entwicklung der Zwillinge die Störung bei Ema jedoch nur bestätigte. Neurologische Berichte zeugten insbesondere bei Ema von einem ungünstigen Zustand. Kontinuierliche, in unserer Praxis durchgeführte Untersuchungen zeigten klar, dass es sich um eine zentrale Koordinierungsstörung schwerer Form handelte, und dass es zum allmählichen, einseitigen Anstieg der Muskelspannung kam. Die Anzeichen von Opisthotonus wurden nicht schwächer, und auf einer Seite gab es weiterhin primitive Reflexe. Die spontane Beweglichkeit war sowohl in der Bauchlage als auch in der Rückenlage gestört. Primitive Reflexe waren auslösbar und sehr intensiv, vor allem der Umklammerungsreflex. Antworten in Lagetests waren abnormal.

Facherklärung des Problems

Vorzeitig geborene Kinder sind in vielerlei Hinsicht gefährdet, vor allem durch Schädigung der zukünftigen psychomotorischen Entwicklung. Insbesondere das Andauern primitiver Reflexe ist ein sehr ernster Hinweis auf eine Störung der motorischen Entwicklung, da gerade primitive Reflexe die gesunde physiologische Entfaltung der Motorik verhindern. Die gestörte Steuerung der spontanen Motorik macht es dem Kind unmöglich, eine stabile Ruheposition in Rücken- oder Bauchlage einzunehmen. Diese Unreife der posturalen Automatik ist eine häufige Ursache für die psychische Unruhe des Kindes. Sein Gehirn „unter der Herrschaft“ primitiver Reflexe beginnt sehr bald, für seine Entwicklung Ersatzbewegungsprogramme zu nutzen, die zu pathologischen Bewegungsmustern führen. Diese ungesunde Koordinierung führt zu pathologischen Bewegungsstereotypen. Es kommt zur Störung der Steuerung grundlegender Bewegungsstereotypen fürs Gehen, Greifen, Atmen und für den orofazialen Bereich. Dadurch werden sowohl die grobe als auch die feine Bewegungsmotorik gestört, was Konsequenzen für den Bewegungsapparat hat. Eine rechtzeitige und vor allem wiederholte Diagnostik des Zustandes der Grundprogramme der Motorik, ausgehend von der Entwicklungskinesiologie, zeigt nicht nur den aktuellen Zustand des Kindes, sondern ermöglicht auch eine verhältnismäßig genaue Prognose. Diese Art der Diagnostik wird bei der Behandlung zu einer kontinuierlichen Diagnostik, die sehr präzise die Entwicklung der psychomotorischen Funktionen verfolgt und die Richtigkeit der gewählten therapeutischen Strategie bestätigt. Der die Patienten im Säuglingsalter behandelnde Therapeut muss selbstverständlich auch ein sehr guter Diagnostiker sein. Die Therapie ist im Rahmen von VM2G auf Normalisierung der Bewegungsentwicklung nach den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklungskinesiologie ausgerichtet. Ziel ist es, dass es in der Folge zum „Ausschalten des Ersatzbewegungsprogramms“ kommt, das die Muskelkoordinierungs- und Muskeltonussteuerung stört, sodass das „Aufspielen“ eines physiologischen motorischen Programms ermöglicht wird. Dadurch wird die normale Entwicklung des Bewegungsapparates neu gestartet.

Video – Ema und Ela Cihlář (zusammengeschnitten)


Cihlářová Ela – Poloha na břiše


Cihlářová Ela – Trakční test


Cihlářová Ela – Poloha na zádech


Cihlářová Ela – Landau


Cihlářová Ela – Axilární vis


Cihlářová Ela – Vojtova boční metoda


Cihlářová Ela – Colis horizontál


Cihlářová Ela – Colis vertikál

Illustration der Lösung

Die Therapie verlief während der ersten Monate bei beiden Zwillingen gleich. Im achten Monat war jedoch völlig klar, dass sich der Zustand bei Ela praktisch normalisiert hatte, während Emas Zustand begann, sich deutlich zu verschlechtern. Das Übungsregime wurde geändert, und mit Ela übte man nur noch einmal täglich. Die Frequenz der Übungen mit Ema wurde auf fünfmal täglich erhöht. Die Übungen mussten beide Eltern gemeinsam machen, denn das Mädchen war schon so groß, dass die Mutter alleine nicht damit fertig wurde. Aus diesem Grund passte der Vater der Kinder seine Arbeitszeit so an, dass er in den Arbeitspausen nach Hause fahren und mit Ema üben konnte. Dieses außerordentlich anstrengende therapeutische Regime dauerte nicht ganz drei Monate. Erst dann begann sich der Zustand von Emas Entwicklung schrittweise zu bessern. Erst jetzt konnten wir die Intensität und Häufigkeit der Übungen allmählich senken. Nach dem 15. Lebensmonat der Patientin kam es zur vollständigen Normalisierung der Bewegungsentwicklung. Die Therapie dauerte insgesamt dreizehn Monate.

Video – Ema und Ela Cihlář (zusammengeschnitten)


Cihlářová Ema – Poloha na břiše


Cihlářová Ema – Trakční test


Cihlářová Ema – Poloha na zádech


Cihlářová Ema – Landau


Cihlářová Ema – Axilární vis


Cihlářová Ema – Vojtova boční metoda


Cihlářová Ema – Colis horizontál


Cihlářová Ema – Colis vertikál

Erklärung der Lösung

Der anfänglich nicht allzu ernste Zustand beider Kinder verschlechterte sich im Laufe der Entwicklung bei Ema wesentlich. Diese pathologische Progression wurde durch neurologische Kontrollen wiederholt bestätigt. Dank des außerordentlichen Einsatzes der Eltern während der Therapiebemühungen gelang es, die Bedrohung einer schlechten motorischen Entwicklung abzuwenden und ihrem Bewegungsapparat zu einer völlig normalen Funktion zu verhelfen, und zwar in allen seinen Bestandteilen. Die eigentliche Therapie, vor allem die Phase, in der es notwendig war, dass beide Eltern mit Ema übten, war für alle Beteiligten außerordentlich anstrengend. Die Therapie verlangte ihnen einen starken Willen, Disziplin und eine erhebliche Dosis von Selbstüberwindung ab. Die Durchführung der VM2G setzte Reparaturprozesse im ZNS in Gang. In diesem Fall war die Stimulierungsaktivität auf die Prozesse im ZNS ausgerichtet, auf Neurogenesis und auf Vorbeugung der Apoptose unreifer Nervenzellen. Durch Nutzung genetisch gegebener motorischer Programme lässt sich eine höchst effektive Stimulierung ohne Überlastungsrisiko durchführen. Dies spielt bei Kindern mit einer schweren zentralen Koordinationsstörung eine sehr wichtige Rolle.

Prognose, Diagnostik und Therapie bei Kindern, die durch eine schwere Störung der motorischen Entwicklung bedroht sind

Bei Patienten im Säuglingsalter, die deutliche Anzeichen einer neurologischen Behinderung zeigen, ist es notwendig, eine sehr intensive VM2G-Therapie zu beginnen. Meist wird die zeitliche und räumliche Summierung der therapeutischen Stimulierung kombiniert. Für eine derart konzipierte therapeutische Strategie ist es von grundsätzlicher Bedeutung, einen Haustherapeuten zur Verfügung zu haben, der zur Erreichung des Behandlungsziels praktisch seine gesamte Freizeit aufopfert. Im angeführten Falle war es nach gewisser Zeit notwendig, dass die Übungen von beiden Eltern durchgeführt werden. Intensive und langzeitig durchgeführte Gehirnstimulierung ist höchstwahrscheinlich die einzig mögliche Lösung zur Aufnahme einer wiederholten Neurogenesis und zum Anhalten des Prozesses der Apoptose und der Destruktion des neuronalen Netzes. Die durchgeführte intensive Stimulierung mittels VM2G überschwemmt das Gehirn dauerhaft mit Reizen, da die Reflextätigkeit in den Gehirnzentren nach jeder Übungsstimulierung noch zwei Stunden fortdauert (Vojta, 1974)1. Unsere Erfahrung zeigte, dass es mithilfe der VM2G-Therapie möglich ist, Kinder ungeachtet der Schwere ihrer ZKS-Gefährdung zu einer völlig normalen Bewegungsentwicklung zurückzubringen, also zum normalen bipedalen Gehen

1 VOJTA, Václav. Mozkové hybné poruchy v koje­neckém věku (Bewegungsrelevante Gehirnstörungen im Säuglingsalter) Praha: Grada, 1993. ISBN 8085424983